Verkostung der Austern
John McCabe

Im Gegensatz zu Wein gibt es nach über 2.000 Jahren des Austerngenusses überraschenderweise noch heute keine offizielle Methode der Austern-Verkostung. Der nachfolgende Text entspricht folglich keinen festen Regeln, sondern enthält lediglich meine eigenen Tipps und Anregungen dazu. Verschiedene und gleiche Austernarten aus unterschiedlichen Gegenden (entsprechend den Kultivierungsgraden) können erhebliche Unterschiede aufweisen. Eine ernsthafte Austern-Verkostung ist interessant und macht Spaß. Lernen Sie Ihre Austern etwas näher kennen!

* Austern werden in der Regel nur roh verkostet. Am wichtigsten ist daher die Frische.

Schon die Römer kosteten Austern. Sie waren sich einig, dass die Austern aus den Kultivierungsparks des Sergius Orata in der Nähe von Neapel besser schmeckten als jene Austern, die massenhaft aus der Bretagne über die Alpen nach Rom geschleppt wurden. Es bedarf keiner übermäßigen Fantasie, um zu Erahnen in welcher Verfassung die bretonischen Austern bei ihrer Ankunft nach der langen und holprigen Reise waren. Was Rom aus der Bretagne erreichte, konnte beim besten Willen nicht mehr als "frisch" bezeichnet werden. Frische Austern haben stets einen besseren Geschmack als jede noch so teuere und berühmte Auster, die bereits eine Woche beim Fischhändler vor sich hinaltert! (Siehe auch Einkaufen)

* Nicht nur das Ursprungsland, sondern auch das Ursprungsgebiet und der Name des Ortes sind wichtig und sollten vor einer Austernverkostung vom Gastgeber in Erfahrung gebracht werden.

Austernverkostungen bereiten Liebhabern eine seltene und besondere Freude. In vielen Städten der Welt gibt es so genannte "Austernbars" bzw. "Oyster bars", in denen Gourmets eine Auswahl aus mindestens einem Dutzend verschiedener Austernsorten geboten bekommen. Wohlgemerkt handelt es sich um viele "Austernsorten" und nicht um viele verschiedene Austernarten. Tatsächlich kann es sich dabei lediglich um zwei Austernarten handeln, jedoch aus unterschiedlichen Gegenden und Kultivierungsmethoden. Sie tragen stolze Namen, die ihre "Sorte" bzw. Herkunft beschreiben. In Europa sind Namen wie "Belon", "Marennes", "Cancale", "Galway" oder "Colchester" den Austernkennern vertraut. In den USA gilt das gleiche für Namen wie "Bluepoint", "Wellfleet" oder "Willapa". "Berühmt" ist nicht unbedingt "besser". Manchmal tragen erstklassige Austern keinen besonderen Namen. Beim Ankauf verschiedener Austernsorten für eine Degustation sollte zunächst festgestellt werden, wo die Austern überhaupt herkommen. Auskünfte wie "aus Frankreich" oder etwa "aus England" sind zwar brauchbar, jedoch sehr oberflächlich. Bitten Sie den Händler das (in Europa und USA vorgeschriebene) Informationsblatt, das jeder Austernlieferung beiliegt, kurz zu prüfen. So können Sie das Kultivierungsgebiet in Erfahrung bringen. Bei Austern aus Deutschland brauchen Sie nicht nachzufragen, da es sich absehbar um eine "Sylter Royal" handeln dürfte. Steht hingegen "Cancale", "Marennes" oder "Colchester" bereits auf den Verkaufsschildchen, dann ist die genaue Herkunft klar.

* Mindestens zwei Austernsorten sollten vertreten sein.

Was einfach erscheint kann sich als schwierig erweisen, da die meisten Fischhändler nur eine Austernsorte anbieten. Hinzu kommt, dass Austern bei manchen Fischhändlern auch nur saisonbedingt (sei es "R-Monate" oder "Feiertage") im Angebot sind. Erkundigen Sie sich auch gleich, ob eine Sonderbestellung möglich ist. Ca. 6-9 cm sollten die Austern schon haben.

* Mindestens drei Austern pro Austernsorte sollte bei einer Verkostung angeboten werden.

Dies bietet dem Verkoster die Möglichkeit nach dem prüfenden Genuss der nächsten Sorte vergleichsweise zur vorherigen Austernsorte zurückzukehren.

* Einfaches Leitungswasser (kein Mineralwasser) und Weißbrot (ohne Butter) sollte zur Verfügung stehen.

* Zitronenkeile, Tabasco-Soße und andere Zutaten gehören zu keiner ernsthaften Verkostung.

* Rauchen ist im unmittelbaren Verkostungsbereich untersagt und peripherer Lärm sollte unterbunden werden. So ist sichergestellt, dass sich alle Sinne ungestört dem Genuss der Austern widmen und ihre feinen Nuancen erleben können.

* Vorbereitung der Verkostungsteller oder Austernplatten.

Vor dem Öffnen der Austern werden (entsprechend der Anzahl der Austern und Verkoster) Teller oder Platten vorbereitet. Auf ihnen sollten die Austern gleich nach dem Öffnen stabil abgestellt werden können. Ich empfehle weiße Teller, da sie später bei der farblichen Prüfung des Austernfleisches guten Kontrast schaffen. Als Dekoration können Sie ca. 2 cm tiefe Salzhäufchen auf den Tellern oder Platten anrichten. Grobes Salz eignet sich dazu am besten, aber gewöhnliches Salz tut es notfalls auch. Zerstoßenes Eis passt natürlich auch wunderbar (ist jedoch manchmal etwas aufwändig). Notfalls können auch Fetzen einer Aluminiumfolie benutzt werden. Die Auster wird einfach per Hand auf einem Stück gefalteter Aluminiumfolie stabilisiert (benutzen Sie den Rand der Alufolie ruhig zur Unterstützung der Schalenseiten). Auch kleine Aquariensteinchen sind eine nette Abwechslung.

* Die Reinigung der Austern.

Die Austern sollten unmittelbar vor der Verkostung aus dem unteren Fach des Kühlschranks genommen und danach unter kaltem, fließendem Wasser mit einem Handbürstchen gereinigt werden. Schenken Sie dabei dem Scharnier besondere Beachtung (weniger wichtig bei Europäischen, jedoch sehr wichtig bei Pazifischen und Amerikanischen Austern).

* Die Austern werden geöffnet und das "Erste Wasser" entsorgt.

Beim Öffnen sollte besonders behutsam vorgegangen werden, damit der Schließmuskel (mitsamt den oberen Mantellappen) sauber von der oberen Schalenhälfte getrennt wird und in der unteren (tieferen) Schalenhälfte seinen Platz finden kann. Das äußerst zarte Austernfleisch sollte nicht vom Austernmesser versehrt werden. Falls doch, ändert dies nichts am Geschmack. Lassen Sie den Ansatz des Schließmuskels im unteren Bereich der Schale vorerst intakt. Das Wasser im Inneren der Schale sollte das Austernfleisch zumindest etwas umspülen. Ist so gut wie kein Wasser vorhanden (das Innere der Auster ist lediglich "trockenfeucht"), dann ist die Auster untauglich für eine Verkostung (vielleicht sogar ungenießbar).

Kippen Sie nun das oberflächliche Wasser behutsam aus der Auster (Sie haben richtig gelesen). Danach trennen Sie den Schließmuskel unter dem Fleisch von der Schale. Anschließend stellen Sie die Austern nach und nach auf den vorbereiteten Tellern ab. Sobald ein Teller fertig ist, sollte er sofort im Kühlschrank aufbewahrt werden. Die optimale Verkostungstemperatur müsste in etwa der Kühlschranktemperatur entsprechen. Wie bei einem Champagner gelten ca. 8 bis 12°C als perfekt. Nie dürfen sich die Austern auf Zimmertemperatur erwärmen. Der erste Eindruck der Verkoster sollte immer eine angenehm kühle Frische sein. Bei kühlen Temperaturen bleiben die komplexen Aromen zunächst erhalten. Wichtig ist das gradierte Erwärmen des Austernsaftes und des Austernfleisches im Gaumen. So können sich die Geschmacksnuancen nach und nach entfalten. Dieser kleine organoleptische Vorteil geht bei einer "warmen Auster" verloren.

Anmerkung #1: Es ist nicht selten, dass ein "trockenfeuchter Zustand" bei ein oder zwei Exemplaren eines Dutzend absolut frischer Austern festgestellt wird. Vielleicht wurden die betroffenen Austern während des Transports oder später beim Fischhändler ungeschickt gelagert (z.B. mit der bauchigen Seite nach oben) und das Wasser ist leider ausgelaufen.

Anmerkung #2: Das Wasser, welches Sie gleich nach dem Öffnen entsorgt haben, wird als "Erstes Wasser" bezeichnet. Dabei handelt es sich vorwiegend um Meerwasser. Dieses Wasser ist bei einer Verkostung bedeutungslos. Wichtig ist nur das "Zweite Wasser" (der pure "Saft" oder "Nektar") der Auster. Es wird sich nach und nach während Ihren Vorbereitungen in den Austernschalen bilden. Sobald die Verkostung beginnt (etwa nach einer halben Stunde) sollte sich ausreichend Zweites Wasser gebildet haben um den Austernsaft kosten zu können. Das Zweite Wasser wirkt optisch leicht milchig (Beispiel).

* Die Verkostungsteller werden nummeriert.

Die unterschiedlichen Austernsorten werden auf einer entsprechenden Anzahl separater Teller den Verkostern präsentiert. Jeder Verkoster bekommt bei zwei Austernsorten drei Austern pro Teller. Die Austernverkostung ist "blind", d.h. die Namen der Austernsorten sind den Verkostern vorerst unbekannt. Den Tellern mit den verschiedenen Austern wird jeweils eine kleine Karte mit #1, #2, #3... beigefügt.


Statt nummerierter Karten eignen sich auch die oberen flachen Schalen der Pazifischen Austern wunderbar. Die Oberschalen sind gekocht, gereinigt und getrocknet. Auf der weißen Innenseite kann dann die Nummer (z.B. mit Nagellack) aufgetragen werden.

Verkostungsformulare

* Jeder Verkoster bekommt vom Gastgeber vorbereitete kleine Verkostungsformulare und einen Stift.

Ein kleines Formular für eine oder mehrere Austernsorten. Das Formular ist sehr einfach gestaltet. Es kann folgende Daten enthalten:

Gastgeber: (bereits vom Gastgeber ausgefüllt)

Datum und Ort der Verkostung: (bereits vom Gastgeber ausgefüllt)

Austern-Nummer: (#1, #2, #3…)

Austernart:

Austernsorte:

* Anmerkung: Wenn es sich um eine Blindverkostung handelt, können diese beiden Felder nach Wunsch erst nach der Verkostung ausgefüllt werden. Vorerst wären dann nur dem Gastgeber die "Identität" von "Auster #1, #2,..." bekannt. Blinde Verkostungen gelten als die fairste Form der Verkostung, da der Verkoster im Vorfeld nicht von bekannten Namen beeinflusst werden kann.

1. Optische Begutachtung:

1.a. Farbe des Austernfleisches

* Hellgrau
* Dunkelgrau
* Grünlichgrau
* Graubraun
* Hellbraun
* Grünlichbraun
* Grau mit grünem Bereich
* Braun mit grünem Bereich
* Sonstige Eindrücke:

1.b. Visueller Eindruck der Fleischkonsistenz
* Weich, leicht transparent, mager
* Weich und mager
* Weich und plump
* Fest und mager
* Fest und plump
* Sonstige Eindrücke:

2. Nase
* Geruchlos
* Meerig
* Erdig
* Schlammig
* Fischig
* Sonstige Eindrücke:

3. Mund
3.a. Zweites Wasser (mehrere Qualifikationen können zutreffen)
* Sehr salzig
* Leicht salzig
* Nussig
* Süßlich
* Modrig
* Pilzig
* Butterig
* Mineralisch
* Sonstige Eindrücke:

3.b. Fleischverkostung (mehrere Qualifikationen können zutreffen)
* Sehr salzig
* Leicht salzig
* Nussig
* Süßlich
* Modrig
* Pilzig
* Butterig
* Mineralisch
* Sonstige Eindrücke:

3.b.1 Konsistenz
* Festes Fleisch
* Weiches Fleisch

4. Abgang bzw. der Nachgeschmack:
* Nussig
* Süßlich
* Modrig
* Pilzig
* Butterig
* Mineralisch
* Sonstige Eindrücke:

5. Gesamteindruck:
* Sehr gut
* Gut
* Befriedigend

*Anmerkung: Verkostungen sind rein subjektiv. Beispielsweise bevorzugen viele Austerliebhaber "meerige" Austern (manchmal auch als "Jod-Geschmack" bezeichnet). Andere Austernliebhaber lieben die sanften butterigen und nussigen Geschmacksnoten. Viele Austern bieten beides. Viele Austernkenner bevorzugen eine festfleischige Auster, welche obendrein "plump" bzw. wohlernährt wirkt. Andere Austernliebhaber schwören auf die besonders lange nachklingende metallische Frische im Gaumen als eindeutiges Qualitätsmerkmal. Bei einer Verkostung dieser Art zählt nur was Ihnen schmeckt. Sie liegen in Ihrer Bewertung des Gesamteindrucks folglich immer richtig!

Serviervorschlag:


Weiße Teller sorgen für einen guten Kontrast. In diesem Beispiel benutze ich einfache weiße Suppenteller. Ganz grobes Salz wurde verwendet (insgesamt ca. 1.5 kg für diese drei Teller).


Die Teller stehen für die Verkostung bereit. Bei Nr. 1 handelt es sich um junge Pazifische Austern (Shelton, Washington). Bei Nr. 2 handelt es sich um Kumamoto-Austern. Bei Nr. 3 handelt es sich um saftige Pazifische Austern aus der Willapa-Bucht im Bundesstaat Washington. Bei diesem Anblick wächst die Vorfreude mit jeder Minute.

Genüssliches Schlürfen allerseits!

John McCabe

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