Die nördlichen Staaten der US-Ostküste
John McCabe

Bei den nördlichen Atlantikstaaten handelt es sich (von Norden nach Süden) um Maine, New Hampshire, Massachusetts, Rhode Island, Connecticut, New York und New Jersey. Im Sinne der Austerngeschichte ordne ich jedoch Delaware, Maryland und Virginia ausnahmsweise dazu, da sie im Austerngewerbe weitaus nördlicher ausgerichtet waren als südlich. Austern aus der Chesapeake Bay wurden schon im 19. Jahrhundert millionenfach in den bereits ausgeschöpften nördlichen Küstengewässern ausgesetzt. Ebenso wimmelte es von nördlichen Austernfischern in der Chesapeake Bay.
Zudem entsprach die Methode der rücksichtlosen Austern-Überfischung fast genau der vorhergegangenen Überfischung in den nördlichen Atlantikstaaten.

Bereits Jahrtausende vor der Ankunft der Europäer war die Amerikanische Auster ein ganz selbstverständliches Nahrungsmittel der Küstenindianer. Sie garten die Austern in der Glut ihrer Lagerfeuer und handelten geräuchertes Austernfleisch mit den Stämmen des Inlands. Überdies wurden Austernschalen von mehreren nordamerikanischen Küstenstämmen zu einer Art Währung verarbeitet ("Wampum"). Dabei handelte es sich um Perlen, die aus den weißen und purpurnen Anteilen der Schalenhälften gefertigt wurden. An Austernkultivierung musste kein Gedanke verschwendet werden, da die Vorkommen der Amerikanischen Auster nahezu unerschöpflich waren.

Als eingewanderte Europäer im 17. Jahrhundert die ersten Siedlungen in den nördlichen Bundesstaaten schufen, gab es in den Küstengewässern überall unendlich große Austernbestände. Beispielhaft ist die zum Bundesstaat New York gehörige große, längliche Insel namens Long Island. Die Indianer gaben dieser Insel ursprünglich den Namen "Sewanahaka" ("Die Insel der Muscheln"). Die Südseite von Long Island ist direkt am Atlantik gelegen und bietet viele Buchten, in denen einstmals wahre Austernreichtümer verborgen lagen. Die ebenfalls buchtenreiche Nordseite Long Islands beheimatet das historisch berühmteste Austernstädtchen Amerikas: Oyster Bay (gleichnamig mit ihrer idyllischen Bucht). Der holländische Seefahrer und Abenteurer David deVries schrieb 1639 in sein Tagebuch:

"Ich liege vor Anker in einer vorteilhaften Bucht im Norden von Long Island. Wir haben herrliche Austern gefunden, weshalb wir Holländer diese Bucht nun als Austernbucht (Oyster Bay) bezeichnen."

Long Island galt fortan als Teil der holländischen Provinz "New Netherland". Im Jahre 1664 übernahmen die Engländer diese Provinz. Drei Jahre später erhielt die Siedlung an dieser besonderen Bucht die offiziellen Stadtrechte vom englischen Gouverneur Sir Edmund Andros. Dazu gehörte ebenso die Aufsicht über die großen Gebiete der "Great South Bay". Oyster Bay entfaltete sich über die nächsten Jahrhunderte in ein wahre Austernwahlfahrtstätte.

Die Nordseite von Long Island liegt direkt an einem großen atlantischen Meeresarm namens "Long Island Sound". Fährt man von Oyster Bay aus nach Osten, erreicht man einen idyllischen Strand namens "Cedar Beach". Steht man am Strand und blickt nördlich über den großen atlantischen Meeresarm, so kann man die Küste des Bundesstaates Connecticut ausmachen.
Connecticut ist historisch von größter Bedeutung - sowohl für die amerikanische Austernkultur, als ausnahmsweise auch für die Austernkultivierung. Ein kleiner Abstecher nach Connecticut ist an dieser Stelle wichtig:

Bereits 1762 wurde in der Stadt New Haven (Connecticut) ein "Austerngesetz" verabschiedet. Es untersagte unter Androhung einer empfindlichen Strafe das Fischen oder Aufsammeln der Austern in den Küstengewässern in der Zeit vom 1. Mai bis zum 1. September (Austernfang war also nur in den noch heute berühmten "R-Monaten" gestattet).

Connecticut konnte um 1850 auch die Geburtsstunde der ersten amerikanischen Austernbauern einläuten. In einer amerikanischen Zeitschrift aus dem Jahre 1877 ("Scribner's Monthly") beschreibt ein Autor namens James Richardson im Detail den Austernfangs des 19. Jahrhunderts um New York und Connecticut. Er merkte an, dass sich die ernsthafte Kultivierung eher als unerwarteter aber willkommener Nebeneffekt aus einem Gesetz der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entfaltete, das jedem Bürger des Staates Connecticut kostenlos die Möglichkeit bot, sich einen kleinen Tidebereich am Long Island Sound zur privaten Nutzung zu reservieren. Die einzigen Bedingungen waren die ordentliche Vermessung des Bereiches und ernsthafte Anstrengungen, die längst ausbleibenden Austern dort wieder zu etablieren. Das Gesetz war revolutionär, da die maritimen Fanggebiete bisher dem so genannten "Common Law" unterlagen. Demgemäß durfte jeder amerikanische Bürger bislang im Meer überall da fischen, wo er wollte. Das Meer war gewissermaßen "Niemandsland". Obwohl über diese Einschränkung des Fischereirechts anfangs ein regelrechtes Gefecht ausbrach, stellte sich bald zufriedene Einigkeit ein. Schon nach kurzer Zeit waren viele Bürger dabei Ihren reservierten "Flecken Meer" zu hegen und zu pflegen. Kleine Austern wurden aus anderen Gebieten importiert und in die eigenen Gewässer ausgesetzt. Bald sollte sich zeigen, dass die jungen Austern zwar heranwuchsen, jedoch nur sehr selten für eigene Nachkommen sorgten. Die vereinzelten Zuchterfolge fielen nicht selten den natürlichen Feinden (Seesternen) zum Opfer. Die wenigen Gebiete, in denen Austernbauern tatsächlich der Anbau gelang, wurden umgehend von Dieben geplündert. An Profit war für viele dieser Kleinunternehmer bald nicht mehr zu denken. Die Kontrolle der besseren Austerngebiete fiel zunehmend an professionelle Austernfischer, die den Übergang zur Kultivierung förderten.

Unter diesen Austernfischern waren auch die Gebrüder Hoyt, die einige Hektar Küstengewässer in der Nähe der Stadt Norwalk pflegten. Sie hatten bisher, wie viele andere Austernfischer auch, ihre jungen Austern an der Mündung des Flusses Hudson River gesammelt und in den eigenen Gewässern ausgesetzt. Die Brüder kämpften mit denselben Widrigkeiten wie die benachbarten Unternehmer: Die Austern wuchsen zwar, vermehrten sich jedoch nicht. Einer der beiden Brüder, Charles Hoyt, wollte schließlich den Grund dafür herausfinden. Er studierte seine Austern bis in das letzte anatomische Detail. Wo kam der spärliche Austernnachwuchs in seinem kleinen "Austernreich" eigentlich her? Wie viele der winzigen Austernbabys waren bereits auf den Schalen der importierten jungen Austern ansässig? Wie viele der Austernbabys wurden durch die eigenen Austern gezeugt? Wann genau und unter welchen klimatischen Umständen haben sie sich fortgepflanzt? Wo siedeln sich die freischwimmenden Austernlarven am liebsten an, um als Austernbabys sesshaft zu werden? Fragen über Fragen.
Er erkannte, dass ein augenscheinlich idealer alter Ziegelsteinbrocken kein einziges Austernbaby aufwies, wohingegen der alte Stiefel nebenan sich gleich mehrerer glücklicher Austernbabys erfreute. Er folgerte daraus, dass die Beschaffenheit des Substrates von höchster Bedeutung ist. Je länger das Substrat dem Meer ganz natürlich ausgesetzt war, umso unattraktiver wirkte es für die freischwimmenden Austernlarven. Der alte Stiefel, der offenbar vor kurzem von einem verärgerten Fischer über Bord geworfen wurde, war wesentlich beliebter als der Ziegelsteinbrocken, der schon jahrelang den Meeresboden zierte. Sein nächster Schritt war "frisches" Austernsubstrat (heute als "Cultch" bezeichnet) zu schaffen. Alte wettergebleichte Austernschalen und abgestorbene Seesterne stellten sich als perfekte neue Heimat für die Larven heraus. Der Autor merkt an, dass Charles Hoyt mit der Zeit seine Austern so gut kannte, dass er fast punktgenau abschätzen zu konnte, wann sie für das erfolgreiche Laichen in seinen Gewässern bereit waren. Entsprechend seiner Erfahrung bereitete er sodann alles für dieses "Hochzeitsnacht" vor. Zwanzig Jahre widmete er letztlich dieser Studie seiner Austern. Der Autor James Richardson erwähnte sogar den französischen Wissenschaftler Costé namentlich, der im Auftrag des Kaisers Napolen III. die Grundlage der erfolgreichen Austernzucht an der Küste Frankreichs schuf. Richardson berechnete, dass der bescheidene Austernbauer Charles Hoyt dem französischen Wissenschaftler mehrere Jahre voraus gewesen sein dürfte. Im Bundesstaat New York versenkten die Austernfischer in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts regelmäßig Unmengen von Austernschalen ("Shelling") in den Küstengewässern, um für Austennachwuchs zu sorgen. Sobald sich genügend Austernbabys auf den Schalen gebildet hatten, wurden die Austernschalen vom Meeresboden geholt und in den gepachteten Gewässern wieder ausgesetzt - grundsätzlich entsprechend der Methode der alten Griechen. Ähnlich wie Connecticut räumte auch der Staat New York den Austernfischern, die bestimmte Gebiete derartig bewirtschafteten, exklusive Rechte ein.

Aber zurück zur Zeitlinie:
Bereits im frühen 18. Jahrhundert belieferten die Austernhändler der Ostküste nicht mehr nur ihre Umgebung, sondern auch das zunehmend besiedelte Inland. Die Austern wurden als Folge bereits Anfang des 18. Jahrhunderts vielerorts knapp.

1776 erklärten die amerikanischen Bürger ihre Unabhängigkeit und lösten sich von der 200jährigen Kolonialherrschaft der Briten. Der Unabhängigkeitskrieg folgte, in dem sich Frankreich letztlich auf die Seite der Amerikaner schlug. In der bis heute berühmtesten Austerngegend Amerikas, der Chesapeake Bay, erschien die französische Flotte 1781 rechtzeitig, um der britischen Flotte das Fürchten zu lehren und den zu Lande kämpfenden Amerikanern den Sieg über die Briten zu sichern. Dies war der Beginn einer tiefen Freundschaft zwischen Frankreich und den USA. Der todesverachtende Franzose Marquis de Lafayette war ohnehin schon ein Nationalheld der Amerikaner. Im Laufe des nächsten Jahrhunderts wurde die Haute Couture der Reichen und Schönen Amerikas, insbesondere in den Südstaaten, durch die französische Kultur geprägt. In diesem Sinne gehörten nach dem Vorbild Frankreichs nun auch in Amerika die Austern einfach zum guten Ton der wohlhabenderen Schicht der Gesellschaft.

Wie einst in New Haven, Connecticut, setzte sich die Regulierung des Austernfangs nun auch in anderen Gebieten der Ostküste durch. Lediglich die "R-Monate" (September - April) wurden für die Austernjagd freigegeben.

Der Austernfang verlagerte sich zunehmend in tiefere Meeresgewässer, wo er per Handarbeit mit zwei scherenartig angeordneten Stangen ausgeführt wurde, die an den Enden mit rechenartigen Auffanggefäßen ausgestattet waren (sog. "Oyster Tongs"). Daneben setzte sich an der amerikanischen Ostküste zeitgleich eine Variante der Schleppnetzfischerei durch, bei der die Austern systematisch vom Meeresgrund geschürft wurden. Anfangs gab es keine speziellen Austernboote wie z.B. in Frankreich oder England. Vielmehr wurden alle zur Verfügung stehenden Boote entsprechend den Anforderungen des Austerfangs modifiziert und eingesetzt. Später gesellten sich Einmaster dazu, die aufgrund ihrer Bauart für den Austernfang bestimmt waren. Sie wurden als "Sharpies" bzw. "Skipjacks" bekannt. Im Jahre 1874 tauchte in Connecticut der erste "Austerndampfer" auf. Hierbei handelte es sich um ein Segelboot, das nachträglich mit einem Dampfmotor ausgestattet worden war. Schon bald tummelten sich zahlreiche "Austerndampfer" unter den anderen Booten, da sie sich als sehr effektiv erwiesen. Die Dampfmotoren waren gegenüber den Segeln einfacher zu bedienen, zuverlässiger, da unabhängig von Wind und Wetter, und besaßen mehr Kraft für das Ziehen der schweren Austernschürfnetze. Die Dampfmotoren waren jedoch so wirkungsvoll, dass sie durch die regionale Gesetzgebung nur wenige Wochen während der Austernsaison zugelassen oder gar völlig verboten wurden. Dennoch waren die Dampfmotoren weiterhin eine wertvolle Ergänzung. Die Segelboote konnten mit ihrer Hilfe in Windeseile die Austerngründe erreichen, wo sie dann die Segel hissten um die Austern gesetzestreu vom Meeresboden zu schürfen.

Nach dem amerikanischen Bürgerkrieg (1861-1865) ging die Austernjagd mit besonderer Rücksichtslosigkeit weiter. So wurden allein in der Chesapeake Bay in der Saison von 1880 über 15 Mio. Austernkörbe gesammelt.


Abb: Der Schalenberg auf dieser Postkarte aus dem Jahre 1912 stammt von den Austern aus 200.000 Austernkörben.

Das Fangverbot während der Monate Mai bis August, welches die ungestörte Fortpflanzung gewährleisten sollte, erwies sich bald als Farce. Austern, die es nach den R-Monaten nicht mehr gab, konnten sich natürlich auch nicht mehr vermehren. Obwohl viele der berühmtesten Austerngebiete der Ostküste Ende des 19. Jahrhunderts entweder leer gefischt oder durch Umweltverschmutzung vernichtet worden waren, sorgten die verbliebenen Gebiete noch bis ca. 1915 für enorme Austernfänge.

Abb.: Typischer großer Austerndampfer um 1920. Besatzung: 25. Fangpotential pro Tag: 8.000 Körbe Austern.

1925 brach Typhus an der nördlichen Ostküste aus, welcher mehrere Menschenleben forderte. Wissenschaftler führten die Ursache der Infektion auf den Verzehr verseuchter Austern aus der Bucht "Raritan Bay" (Bundesstaat New Jersey) zurück. Dies war wie ein Schlag ins Gesicht des einheimischen Austernhandels. Jede Auster auf dem Teller wirkte plötzlich wie die "fleischgewordene" Rache der Natur für die durch Abwasser rücksichtslos verseuchten Küstengewässer. Die Sorge war groß. Mehrere Austernfanggebiete in den Nordstaaten wurden umgehend geschlossen. Große und kleine Austernbetriebe mussten den Betrieb einstellen. Viele Austernliebhaber an der Ostküste bevorzugten die Austern der noch weitgehend unverschmutzten Westküste.

Die nächsten 50 Jahre hielten für die Austernfischer der Nordstaaten weitere harte Herausforderungen bereit. Vernichtende Austernkrankheiten wie Dermo ("Perkinsus marinus") und MSX ("Minchinia nelsoni") zerstörten in manchen Gebieten bis zu 95% der Austernbestände. Obwohl für den Menschen unschädlich, werden diese Parasiten von Austernfischern noch heute gefürchtet. Wissenschaftlern ist es zwischenzeitlich gelungen, zumindest etwas Dermo- und MSX-resistentere Austern zu züchten. Viele der Austernfischer wandten sich dem verstärkten Fang der Venusmuschel zu.

1972 verabschiedete die US-Regierung ein entscheidendes Gesetz zum Schutze der amerikanischen Gewässer (den sog. "Federal Clean Water Act"). Fortan unterlagen die Abwasserwirtschaft der Industrie und Städte diesen Richtlinien zum Umweltschutz. Für manche Austernfischer der nördlichen US-Küstenstaaten manifestierte sich der Segen dieser Gesetzgebung binnen eines Jahrzehnts in einem verdreifachten Austernfangvolumen. Dieses Gesetz wurde über die folgenden Jahrzehnte mehrfach erweitert und verschärft. Die Wasserqualität der Austernfanggebiete unterliegt nun schon seit Jahrzehnten strenger behördlicher Kontrolle. Die Austernfischereien in einigen Nordstaaten blühen wieder etwas auf. Die nordöstlichen Staaten halten heute wieder eine bemerkenswerte Auswahl vorzüglicher Amerikanischer Austern bereit. In den Bundesstaaten Maine und Massachussets wird inzwischen sogar die Europäische Auster kultiviert.



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**** Fallstudie: Chesapeake Bay
**** Ein chinesischer Immigrant namens Ariakensis

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