Das Oströmische Reich im Überblick
John McCabe

Das Oströmische Reich war für die Geschichte der Perlen von höchster Bedeutung. Es währte über tausend Jahre (395-1453 n. Chr.) und wird heute oft auch als das "Byzantinische Reich" bezeichnet.

Im Jahre 395 n. Chr. verteilte der römische Kaiser Theodosius I. kurz vor seinem Tod die Herrschaft des Reiches auf seine zwei Söhne Honorius und Arcadius. Fortan regierte Honorius das Weströmische Reich und Arcadius das Oströmische Reich. Obwohl der Zeitpunkt des Anbeginns des Oströmischen Reiches unter Historikern umstritten ist, wird oft die Amtszeit des Kaiser Theodosius I. (379-395) als Ausgangspunkt gewählt.

Nach dem Fall des Weströmischen Reiches Ende des 6. Jahrhunderts erbte das Oströmische Reich nicht nur die Kulturschätze des ehemaligen Römischen Reiches, sondern auch die der antiken Hochkultur der Griechen. Gleichzeitig bewährte sich dieses Reich über Jahrhunderte hinweg als die stärkste Bastion des Christentums in der damaligen Welt. Bis zu seinem Ende diente das Oströmische Reich als Schutzschild Europas gegen die mächtige, ständig drohende islamische Welt. Mit einer Mischung aus militärischer Kraft, gewandter Diplomatie und regem Handel hielt es Jahrhunderte lang die ständigen Expansionsgelüste verschiedener starker Völkergruppen des Orients in Schach. Zeit genug, damit der Rest der christlichen Reiche, vorwiegend unter der Aufsicht der Römisch-Katholischen Kirche, ihre Machtverhältnisse untereinander aussortieren konnte. Zahlreiche Angriffe der Hunnen, Germanen, Slawen, Osmanen und Perser konnten abgewehrt und damit das kulturelle Erbe der römischen und griechischen Antike bewahrt werden. Indirekt verdankte ihnen somit auch das gesamte Christentum Europas über Jahrhunderte hinweg die Unversehrtheit.

Die Bürger im Oströmischen Reich fühlten sich natürlich berechtigterweise als Römer, ebenso wie die Bürger im ehemaligen Ost- und Westdeutschland auch während der Teilung Deutsche waren. Die römisch-katholischen Kirchenoberhäupter und mehrere Herrscher des Westens wollten nach dem Fall des Weströmischen Reiches jedoch sich als die "wahren Erben" des Römischen Reiches verstanden sehen. Um dies zu untermauern, war man sich auch nicht zu schade einen gefälschten Erlass des römischen Kaisers Konstantin I. hervorzuzaubern. Diese wohl berühmteste Fälschung in der Geschichte ist als "Constitutum Donatio Constantini" bekannt.

Über die Jahrhunderte war dieses Reich einer ständigen flächenmäßigen Fluktuation unterworfen. So lag es einst gar auf drei Kontinenten und berührte fünf Weltmeere. Es war vom Anfang bis zu seinem Ende die historisch bedeutendste Verbindung zwischen dem Abendland und dem Orient.

An einer für den Handel und die strategische Kriegsführung idealen Stelle, dem Bosporus, befand sich die prachtvolle Hauptstadt Konstantinopel (heute "Istanbul"). Der Bosporus ist eine Meerenge zwischen Europa und Kleinasien. Sie verbindet das Schwarze Meer mit dem Marmarameer. Das Marmarameer ist wiederum ein Binnenmeer zwischen Europa und Asien. Es steht durch die Dardanellenstraße mit dem Ägäischen Meer in Verbindung.

Ursprünglich trug diese Stadt den Namen "Byzantium". Sie wurde vom Kaiser Konstantin I. im Jahre 362 (neben Rom) als zweite Hauptstadt des Römischen Reiches im Osten des Reiches auserkoren. Der Name der neuen Hauptstadt war anfangs "Neues Rom" bzw. "Nova Roma". Konstantin ließ die Stadt im prachtvollen Ebenbild des alten Roms neu erbauen. Nach ihrer Vollendung war die Stadt fünf Mal größer als zuvor und wurde wenige Jahre später zu seinen Ehren auf den Namen "Konstantinopel" umgetauft (heute als "Istanbul" in der Türkei bekannt. Siehe Karte).

In Konstantinopel öffneten sich mächtige Handelspforten zwischen dem Abend- und Morgenland wie nirgendwo sonst auf der Welt. Die Stadt war folglich auch ein Schmelztiegel der Kulturen. Es wimmelte ständig von Händlern aus allen nur erdenklichen Ecken der damaligen Welt. In Konstantinopel war einfach alles zu finden. Feinste Seide, bester Schmuck, kunstvolle Teppiche, kostbare Farbstoffe, guter Wein, hochwertigste Perlen (und viele andere Edelsteine), Pfeffer, Zimt, Muskatnüsse, Weihrauch, Mandeln, Safran, Balsam, Olivenöl, Feigen und Mandeln wurden lautstark an allen Ecken feilgeboten. Reisende Kaufleute aus fernen Ländern waren nicht nur wegen ihrer exotischen Waren gern gesehen, sondern auch weil sie Nachrichten aus aller Welt mitbrachten. Konstantinopel war eines der wichtigsten internationalen Informationszentren der damaligen Welt.

Konstantinopel war unglaublich reich. Nach dem Tod des Kaisers Anastasius im Jahre 518 n. Chr. befanden sich ca. 150.000 kg Gold in der staatlichen Schatzkammer. Eine oströmische Goldmünze mit der Bezeichnung "Bezant" bzw. "Solidus", ursprünglich von Kaiser Konstantin eingeführt, war zwischen dem 4. und 12. Jahrhundert in allen damaligen Reichen der Welt als Zahlungsmittel anerkannt und sehr gern gesehen. Erst durch die Ankunft der Gold- und Silbermünzen mit der Bezeichnung "Dukat" (oder "Ducat") im 12. Jahrhundert wurde sie letztlich ersetzt.

Bis Anfang des 6. Jahrhunderts waren Antioch, Alexandria und Konstantinopel die bedeutendsten Zentren der Goldschmiedekunst. Kurz darauf kristallisierte sich Konstantinopel als unbestrittener Weltmarktführer heraus, eine Position, die es über viele Jahrhunderte behielt. Skandinavische Kulturschätze und Ausgrabungen belegen, dass oströmischer Schmuck auch bei den Wikingern Gefallen fand. Ein Halsband aus einer oströmischen Goldschmiede wurde neuzeitlich in einer königlichen Grabstätte in China entdeckt. Die Oströmer entwickelten auch zahlreiche neue Methoden der künstlerischen Schmuckverarbeitung (Emailkunst). Selbst später zu Zeiten der zunehmend bedeutenden Goldschmiedezentren im mittelalterlichen Westen Europas, hatten die Goldschmiede in Konstantinopel zwei mächtige Trümpfe auf der Hand: Die feinsten Perlen der damaligen Welt und reichlich Gold! Wer genug Geld hatte und ein wahrlich besonderes Kleinod mit hochwertigsten Perlen begehrte, kam nicht an Konstantinopel vorbei.

Es bestanden erstklassige Handelsverbindungen über den See- und Landweg zu den bedeutendsten Fundorten der Perlen im Persischen Golf, der Straße von Manaar zwischen Indien und Ceylon (heute "Sri Lanka"), entlang der Küste Indiens bis hin nach China. Dort wurden in bestimmten Provinzen bereits seit dem 5. Jahrhundert nach Christus auch die so genannten "Buddha-Perlen" gezüchtet. Die Perlen (und der Perlmutt) stammten damals vorwiegend von Perlausterarten wie "Pinctada radiata" (auch als "Pinctada vulgaris" bezeichnet) und öfters auch "Pinctada margaritifera". In vielen der klassischen, damals noch von Umweltverschmutzung und von Überfischung verschonten Meeresgewässern fühlte sich insbesondere die Perlauster "Pinctada radiata" wohl, deren Perlmutt zwar keinen besonderen Wert hatte, jedoch bereits über viele Jahrhunderte hinweg für Unmengen der typischen "Orientperlen" gesorgt hatte.

Im Jahre 1054 kam es zu ernsthaften Meinungsverschiedenheiten zwischen der Römisch-Katholischen Kirche und Oströmischen bzw. Griechisch-Orthodoxen Kirche.

Der 4. Kreuzzug (1202 - 1204) gilt als der Todsstoß für Konstantinopel. Der römisch-katholische Papst Innozenz III. hatte 1198 dazu aufgerufen. Auf Betreiben venezianischer Machthaber, insbesondere dem venezianischen Dogen Enrico Dandolo, änderte sich der Kurs der Kreuzritter. Nicht das Heilige Land war nun letztlich das Ziel, sondern das christliche Konstantinopel. Im Jahre 1204 fiel Konstantinopel und wurde von den Kreuzfahrern völlig ausgeplündert. Tausende oströmische Christen wurden von römisch-katholischen Truppen dahingemetzelt. Alles was auch nur annähernd als "kostbar" erschien, wurde gestohlen und nach Venedig und andere Gegenden Westeuropas verschoben. Kostbare Heiligenreliquien wurden über ganz Europa verstreut. Kunstwerke, die man nicht mitnehmen konnte, wurden zerstört. Oströmische Bibliotheken mit zahllosen Schriften unschätzbaren Wertes wurden niedergebrannt. Sogar die mit Bronze beschlagenen Türen der Sophienkirche wurden im Zuge ihrer vollständigen Plünderung mitgenommen. Die Kreuzfahrer dachten sie bestünden aus Gold.

Obwohl der oströmische Kaiser Michael VIII. Palaeologus die Stadt im Jahre 1261 zurückeroberte, konnte sich das Oströmische Reich nie wieder vom 4. Kreuzzug erholen. Das inzwischen mächtige Osmanische Reich gewann zunehmend an Einfluss. 1326 fiel die bedeutende Stadt Bursa - nur ca. 90 km südlich von Konstantinopel. 1361 fiel Adrianopel (Edirne), die zweitgrößte byzantinischen Stadt. Das Oströmische Reich schrumpfte Stück um Stück auf die Stadt Konstantinopel zurück.

Im Jahre 1453 überrannte der osmanische Herrscher "Mehmet der Eroberer" die Hauptstadt Konstantinopel nach einer großen und blutigen Schlacht. Das letzte Stückchen des Oströmischen Reiches, Trapezunt, wurde 1460 unterworfen. Dies beendete die Herrschaft des Oströmischen Reiches endgültig. Konstantinopel war fortan die Hauptstadt des Osmanischen Reichs. Der Sophienkirche wurden architektonische Ergänzungen mit islamischen Zügen zugefügt. Sie verwandelte sich letztlich in die "Moschee Ayasofya".

Die Osmanen waren sich des kostbaren kulturhistorischen Reichtums des Oströmischen Reiches bewusst und man versuchte die Bevölkerung zu halten, was auch teilweise gelang. Später erfüllten viele der Nachfahren des christlichen Oströmischen Reiches auch im islamischen Reich der Osmanen wichtige politische, administrative und militärische Funktionen und erwiesen sich bei weiteren osmanischen Eroberungen in Europa als sehr wertvoll. Viele oströmische Gelehrte und Fachleute flüchteten jedoch nach Italien, wo ihr verpflanztes Kulturgut wieder Wurzeln schlug und den Anbeginn der Renaissance beflügelte.

Im Jahre 2004, 800 Jahre nach dem 4. Kreuzzug, gab Papst Johannes Paul II. die Gebeine der oströmischen Kirchenväter Gregor von Nazianz (329-390) und Johannes Chrysostomos (349-407), dem Ökumenischen Patriarchen von Konstantinopel, Bartholomaios I., zurück. Sie wurden ursprünglich bei der Plünderung Konstantinopels im Jahre 1204 geraubt.

Das Oströmische Reich wird heute oft auch als das "Byzantinische Reich" bezeichnet. Die Bezeichnung "Byzantinisches Reich" ist eine Erfindung des deutschen Historikers Hieronymus Wolf aus dem Jahre 1557. Sie wurde vom Namen der antiken Stadt Byzantium (oder auch "Byzantio" bzw. "Byzanz") abgeleitet. Es handelt sich dabei also um eine nachträgliche Umbenennung des Oströmischen Reiches.

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