Symbolik der Perlen im Oströmischen Reich
John McCabe

Vorbei war die Zeit, dass frühe christliche Römer im Weströmischen Reich ständig um ihr Leben bangen mussten. Vorbei war jedoch auch die Zeit, dass Christen in ihrer Armut und Unterdrückung keinen Gedanken an Gold und kostbare Perlen verschwendeten. Diese biblischen Beispiele der Vergänglichkeit irdischer Schätze waren nun auch bei den Christen sehr begehrt - so begehrt, dass manche Historiker die Ansicht vertreten, dass mehr Gold und Perlen im christlichen Oströmischen Reich, als im gesamten ehemals heidnischen römischen Reich vorhanden waren.

"Und die zwölf Tore waren zwölf Perlen, je eines der Tore war aus einer Perle..." lässt die Bibel in der Offenbarung verlauten. Man konnte bei der Betrachtung einer Perle den Reichtum und die Pracht des Himmelreiches erahnen (siehe auch Christen).

Überall konnte man nun Perlen bewundern. Wohlhabende Männer, Frauen und Würdenträger trugen goldene Kreuze mit kunstvoll eingearbeiteten Perlen. Die betuchte Damenwelt trug perlenbestückte Hals- und Armbänder. Perlen befanden sich auf Bibeleinbänden, in den Dekors zeremonieller Gewänder, Kirchengefäßen und auf den Reliquien der Heiligen. Als die Sophienkirche (oder "Hagia Sophia") von Kaiser Justinian prachtvoll restauriert und ausgebaut wurde, lies er die Kanzel mit tausenden Perlen bestücken. Justinian schuf mit dem Bau vieler prachtvoller Kirchen irdische Konstrukte, in denen Menschen dem Himmel etwas näher treten durften. Umgeben von der allgegenwärtigen Pracht der Kirchen konnte der Reichtum und die Schönheit des Himmelreiches erahnt werden. Der zeitgenössische Historiker Procopius brachte es beim Besuch der prachtvollen Sophienkirche auf den Punkt als er anmerkte "...die Seele sich zum Himmel hebt und man spürt, dass Gott sehr nahe ist".

Die primäre Darstellung des Goldes und der Perlen war in erster Linie eng mit der heiligen Schrift der Bibel verbunden. Das unzerstörbare Gold erinnerte an die glänzenden Straßen des neuen Jerusalems: "...und die Straße der Stadt war reines Gold, wie durchsichtiges Glas." Die Symbolik der Perlen wiederum war sehr vielschichtig, fast wie ihr Perlmuttbelag selbst. Die betörend schönen, durch nichts weltliches getrübten Perlen wirkten wie das leuchtende Zeichen des durch keine irdischen Versuchungen getrübten Glaubens der wahren Christen. Sie symbolisierten in erster Linie Reinheit und Seligkeit. Sie verkörperten gewissermaßen das Bestreiten eines christlichen Lebens als die reinen Perlen Gottes.

Das Mysterium der Perlenbildung selbst wurde als Beispiel einer seltenen und kostbaren Symbiose zwischen Himmel und Erde verstanden, worin sich die unendliche Macht, Größe und Weisheit Gottes widerspiegelt. Eine schlichte Muschel wurde vom Himmel auserkoren um aus ihrem Fleisch und Blut einen reinen Edelstein für die Menschheit hervorzubringen. Folglich symbolisierte die Perle auch die Menschwerdung Jesu in der Jungfrau Maria.

Perlen besitzen im Gegensatz zu allen anderen Edelsteinen besondere Eigenschaften, welche sich auch auf uns Menschen übertragen lassen. Wie beim Menschen ist ihr Ursprung rein organisch. Ihre Natur ist ebenso wie die menschliche oft widersprüchlich, da Perlen zwar hart sind, jedoch gleichzeitig auch empfindlich und vergänglich. Zugleich sind sie, im Gegensatz zu anderen Edelsteinen, nicht schwer, sondern ungewöhnlich leicht. Sie sind der einzige Edelstein, der von Mutter Natur bereits geschliffen wurde. Jede Naturperle der Welt ist, wie auch jeder Mensch, einzigartig. Es gibt keine zwei Naturperlen, die identisch sind. Ebenso gibt es keine Naturperle, welche völlig makellos ist. Alle Naturperlen weisen auch bei augenscheinlich bester Symmetrie und Glanz irgendwo einen kleinen Fehler auf. Gerade das zeichnet sie als Naturperlen aus und wahrt ihre Einzigartigkeit.

Perlen verkörperten auch das Symbol irdischer Macht. So durften sie nicht in den Kronen christlicher Kaiser und an den Kopfbedeckungen vieler hoher Würdenträger fehlen. Schon von weitem konnte man den Träger als eine außerordentlich bedeutende Persönlichkeit identifizieren. Die Bibel sagt sehr deutlich, dass es nie einen größeren König gegeben hat
oder jemals geben wird als Jesus Christus, der König aller Könige. Da sich jeder Christ dessen bewusst war, durfte nicht mal ein Kaiser den leisesten Verdacht beim Volk aufkommen lassen, dass es ihm an Demut vor Gott mangele. Ein Kaiser galt keinesfalls als "divinus" bzw. "göttlich". Dies ließe sich nicht mit dem Christentum vereinbaren. Er war vielmehr "a deo electus" bzw. "von Gott auserwählt" und somit besonders begnadet.

In den berühmten Justinian- und Theodora-Mosaiken der Kirche San Vitale in Ravenna aus dem 6. Jahrhundert kann man die große Bedeutung der Perlen als zwingenden Anteil der oströmischen Reichsführung deutlich erkennen. Kaiser Justinian trägt ein besonderes Diadem, das als Vorläufer der späteren klassischen Kronen Europas gilt. Es ist mit zahlreichen Perlen versehen und soll dem Volk zeigen, dass Kaiser Justinian nicht nur politisch an der Spitze des Staates steht, sondern auch eine Führungsrolle im christlichen Sinne erfüllt. Seine bezaubernde Frau Theodora wird in einem weiteren Mosaik abgebildet und war ebenso außerordentlich reich mit Perlen ausgestattet. Es wird erzählt, dass sie ursprünglich lange Perlenstränge als Ohrringe trug. Als diese jedoch zu schwer für ihre Ohrläppchen wurden, soll sie sich ein Diadem angeschafft haben, von dem sie dann ihre langen Perlenstränge (sog. "Pendilien") problemlos herabhängen lassen konnte. Diese "Pendilien" waren jedoch schon lange vor Theodora ein Bestandteil des oströmischen Kronenschmucks. Der Kaiser Marcian (Amtszeit 450-457 n. Chr.) trug diese "Kronen-Anhänger" bereits lange vorher. Traditionsgemäß waren die Pendilien eines Kaisers kurz (über der Schulter) und hingen hinter den Ohren. Die Pendilien der kaiserlichen Gemahlin waren traditionsgemäß lang und hingen vor den Ohren. Sie blieben bei den Herrschern im Oströmischen Reich bis ins 15. Jahrhundert in Gebrauch. Die enormen tropfenförmigen Perlen (sog. "Barockperlen") unter den Ohren des Kaisers Justinian erinnern im Mosaik auf den ersten Blick an "Ohrringe", stellen jedoch lediglich die Ausläufer der Pendilien an seiner Krone dar.

Beide Mosaike zeigen auch andere Beispiele der Perlen-Nutzung im Oströmischen Reich. Im Theodora-Mosaik ist auch ein mit Perlen verzierter, goldener Kelch abgebildet, der an ein Kirchengefäß erinnert. Theodoras höfisches, weibliches Gefolge trägt teilweise mit Perlen verzierte Hals- und Armbänder. In diesem Perlenschmuck dürfte jegliche christliche Symbolik fehlen. Es handelt sich scheinbar lediglich um "Modeschmuck" für die Damen, wie er eben zur Zeit Kleopatras, im heidnischen Rom oder auch heute noch üblich ist. Im Justinian-Mosaik ist ein Bibeleinband mit Perlen bestückt. Die Häupter Justinians und Theodoras sind zusätzlich jeweils mit einem goldenen Nimbus bzw. einer Aureole (Heiligenschein) umgeben, was unterstreicht, dass sie beide als sakrale Majestäten gegolten haben.

Besondere Schmuckstücke oströmischer Goldschmiede waren ihrem Design und der Steinsetzung nach oft sehr durchdacht. Nicht selten enthielten sie eine christliche Zahlensymbolik. Bestimmte Nummern sind im Christentum von großer Bedeutung (wie 12, 3, und 8). Auch die Mischung der Perlen mit anderen Edelsteinen wurde nicht dem ästhetischen Zufall überlassen, sondern mit christlicher Mystik verbunden. Ebenso war auch die Größe der genutzten Perlen (und der anderen Edelsteine) von Bedeutung, deren relative Gewichtung sich in der christlichen Zahlensymbolik ebenso finden lassen konnten.

Als die Perlen um das 9. Jahrhundert zunehmend auch in den westeuropäischen Reichen an Beliebtheit gewannen und ihre Gunst alsbald weite Verbreitung fand, erwuchs eine Abhängigkeit vom Oströmischen Reich. Sowohl kulturhistorisch als auch wegen des Nachschubs dieses hochwertigen Schmucks war das Oströmische Reich bald unersetzlich. Ein Herrscher, der sich eine ordentliche Krone wünschte, war gut beraten sich an die Goldschmiede von Konstantinopel zu halten. War ihm dies nicht möglich, so musste er zumindest dafür sorgen, dass seine Goldschmiede den hohen Qualitätsstandard Konstantinopels ausreichend nachahmen konnten. Diese uralten oströmischen Traditionen setzten Trends an denen sich die westliche Welt orientierte.
Beispielhaft dafür ist die historisch bedeutendste Krone: Die mittelalterliche Reichskrone des Heiligen Römischen Reiches (heute im Kunsthistorischen Museum in Wien ausgestellt). Wann diese edle Krone genau hergestellt wurde ist noch heute umstritten (man schätzt um die Mitte des 10. Jahrhunderts). Ebenso umstritten ist ihr Herstellungsort. Unverkennbar ist ihre Pracht und christliche Symbolkraft, welche deutlich an das oströmische Reich erinnert. Die Krone gilt gleich aus mehreren Gründen als die Perfektion christlicher Zahlensymbolik. Sie soll mit 144 Perlen bestückt sein (entspricht also der christlich elementaren Nummer 12 mal 12). Am unteren Rand der beiden Seitenplatten der Krone befinden sich jeweils drei kleine waagerechte Röhrchen, die zur Anbringung der oben erwähnten "Pendilien" vorgesehen waren. Dieses kleine Detail zeigt zudem die unmittelbare Verbindung zu den klassischen Kronen oströmischer Kaiser.

Vielerorts in Ost- und Westeuropa kann man noch heute die oströmische Goldschmiedekunst bewundern. Beispielhaft ist die berühmte Pala d'Oro ("Goldtafel") im Dom San Marco von Venedig. Dabei handelt es sich um eine große Altartafel, welche eindrucksvoll die überragende Emailkunst mit aufwendigen Goldarbeiten und reichen Edelsteinintarsien in mehreren christlichen Motiven verbindet. Auf der Tafel wurden 526 Perlen, 330 Granate, 320 Smaragde, 255 Saphire, 137 Emailmedaillons und 83 Emailplatten eingearbeitet. Der Großteil der Bestandteile der Tafel wurde während des 4. Kreuzzuges von westeuropäischen "bewaffneten Pilgern" aus dem christlichen Konstantinopel gestohlen.

Die alten Römer
* Perlen im Römischen Reich
* Die letzten 250 Jahre des Reiches im Überblick
* Perlen im frühen Christentum

Oströmisches Reich
* Das Oströmisches Reich im Überblick
* Christliche Symbolik der Perlen

Renaissance bis 19. Jahrhundert
* Renaissance bis 19. Jahrhundert im Überblick
* Weltentdeckung und neue Perlenquellen
* Die Perlen der Conquista
* Die Perltaucher

20. Jahrhundert
* Die Ankunft der Zuchtperlen 

zum Seitenanfang
 


Inhalte auf Austern.com sind urheberrechtlich geschützt.
Berichtigungsvorschläge werden dankend entgegengenommen.
All contents © Austern / McCabe.us, John W. McCabe Site Archive
Kontakt (Impressum)