Die europäische Austernkultivierung des 20. und 21. Jahrhunderts
John McCabe

In Europa folgten dem Zerfall des klassischen römischen Reiches viele Jahrhunderte der Austernplünderung. Eine Kultivierung fand nicht statt. Mitte des 19. Jahrhunderts galten Austern in Europa bereits als Mangelware. Dies führte in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts im Frankreich Napoleon des III. zur Einführung großflächiger Kultivierungsbestreben. Das Zeitalter der "Austernbauern" war geboren. Der Zufall war im wahrsten Sinne des Wortes der Geburtshelfer der Portugiesischen Auster (Crassostrea angulata). Diese Austernart fühlte sich in den französischen Gewässern außerordentlich wohl und verdrängte vielerorts zugleich die heimische Europäische Auster (Ostrea edulis). Dieser anfängliche Fluch war für die Franzosen letztlich ein wahrer Segen. Die Portugiesische Auster freundete sich aufgrund ihrer Anpassungsfähigkeit schnell mit den unterschiedlichen Gewässern an, wuchs wesentlich schneller (schnellere Handelsreife) und war obendrein sehr delikat.

In der Belle Epoque bildete sich in mehreren europäischen Staaten eine große wohlhabende Bürgerschicht. Wie Champagner gehörten auch Austern zum guten Ton - insbesondere an Festtagen oder zu besonderen Anlässen. Die tüchtigen französischen Austernbauern hielten Schritt mit der stetig wachsenden europäischen Nachfrage. Zudem verstanden sie es, die Austernkultivierung in neue Höhen zu treiben. Sie hegten und pflegten ihre Austern und setzten sie manchmal zusätzlich in speziellen Klärbecken ("Claires") aus, um dem Geschmack eine ganz besondere Note zu verleihen.

Anfang der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts lagen die einstmals reichen natürlichen Austernbestände in Holland, Belgien und England, durch Überfischung, Verschmutzung und die nicht vorhandene Kultivierung wirtschaftlich am Boden. Ebenso waren die Austern der deutschen Wattenmeere bereits längst durch den maßlosen Schürfnetzfang so gut wie ausgerottet. Lediglich Frankreich gelang es seine Austernproduktion nicht nur aufrecht zu erhalten, sondern sogar auszubauen. So genannte "Collecteurs" wurden inzwischen (und werden immer noch) in den südwestlichen Küstengebieten systematisch eingesetzt. Dabei handelt es sich um optimale Kultivierungs-Substrate (etwa kalkbeschichtete Dachziegel), die freischwimmenden Austernlarven geradezu einladen, darauf sesshaft zu werden. Somit kann zuverlässig für eine große Menge Austernbabys (sog. "Naissains") gesorgt werden, welche dann im Meer ausgesetzt und bis zur Marktreife "gemästet" werden können.

Zwischen 1966 und 1969 wurde der Großteil der Portugiesischen Auster in Europa durch eine Kiemenkrankheit getötet. Die Ankunft eines weiteren Austernvirus zwischen 1970 und 1973 sorgte für die fast vollständige Ausrottung dieser Austernart. Ähnlich erging es 1974 auch der heimischen Europäischen Auster (Viren "Martellia refringens" und "Bonamia ostrea"). Die europäische Austernindustrie stand kurz vor dem Kollaps. Allein in Frankreich drohte ca. 5.000 Austernbauern die Arbeitslosigkeit.

An der amerikanischen Westküste im US-Bundesstaat Washington wurde die aus Japan eingeführte Pazifische Auster (Crassostrea gigas) bereits seit 1919 überaus erfolgreich kultiviert. Der Anbau der Pazifischen Auster im nördlich gelegenen British Columbia (Kanada) war ebenso aufstrebend. Bis Anfang der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts waren sowohl die amerikanischen wie auch die kanadischen Austernbauern noch vom Import großer Mengen Austernbabys aus Japan abhängig. Diese wurden dann in den heimischen Gewässern ausgesetzt und zur Marktreife aufgepäppelt. Zwar vermehrte sich die Pazifische Auster auch in einzelnen Buchten des Bundesstaates Washington, jedoch nicht zuverlässig und ausreichend genug. Das erfolgreiche Züchten der Pazifischen Auster von "A bis Z" in meeresbiologischen Laboren in USA stand zwar kurz vor dem Durchbruch, war jedoch noch nicht völlig ausgereift. Nur wenige Jahre später sollten die US-amerikanischen und kanadischen Austernbauern nicht mehr auf Japans Nachschub der Austernbabys angewiesen sein.

Ein französischer Austernbauer hatte 1968 inoffiziell Austernbabys der Pazifischen Auster aus Japan importiert und erfolgreich angebaut. Er unterrichtete andere Austernbauern über deren außerordentlich schnelle Wachstumsrate und geschmacklich hohe Qualität. Diese mussten nicht lange überzeugt werden und entschlossen sich weitere Pazifische Austern einzuführen. Das meeresbiologisches Institut Frankreichs ("L'Institut Scientifique et Technique des Pêches Maritimes") gestattete dies jedoch nicht. Es bestand die nicht unbegründete Befürchtung, dass die ungeprüfte Einführung dieser Austernart die Meeresbiologie der Küste Frankreichs nachhaltig gefährden könnte. Eine Kontrolle, welche Organismen die Auster unbemerkt "mit im Gepäck" haben würde, sei ohne weiteres nicht möglich. Diese Entscheidung sorgte für großen Unmut unter den verzweifelten französischen Austernbauern. Schließlich wurden 1969 Wissenschaftler nach Japan geschickt, um an Ort und Stelle zu prüfen, wie schädlich die Einführung der Austernbabys tatsächlich wäre. Überdies untersuchten französische Wissenschaftler erwachsene Exemplare der Pazifischen Auster in British Columbia (Kanada) mit dem Gedanken laichfähige Austern in französischen Gewässern auszusetzen. Das Ergebnis beider Untersuchungen sprach für die Einführung und der französische Staat genehmigte folglich diese "neue" Austernart.

Zwischen 1971 und 1975 wurden erwachsene Austern aus British Columbia importiert und in drei Gebieten südlich von La Rochelle, Frankreich, ausgesetzt. Die Pazifische Auster fühlte sich in ihrer neuen Heimat pudelwohl und vermehrte sich sehr erfolgreich. Simultan wurden zwischen 1971 und 1977 Austernbabys aus Japan importiert. Um der unerwünschten Einführung anderer Meereslebewesen vorzubeugen, wurde die importierte Austernsaat vorübergehend erst einer Art "Süßwasser-Bad" ausgesetzt, ehe sie sich der französischen Gewässern erfreuen durfte.

Die Pazifische Auster erwies sich als immun gegenüber den europäischen Austernkrankheiten und wuchs noch schneller heran als die Portugiesische Auster. In manchen französischen Küstengewässern erreichte die Pazifische Auster binnen 18 Monaten eine Marktreife von ca. 70g Fleischgewicht. Ein weiterer Bonus war ihre Ähnlichkeit zu der den französischen Austernbauern vertrauten Portugiesischen Auster. Bestehende Kultivierungsmethoden konnten somit problemlos bei der Pazifischen Auster fortgesetzt werden. Dank der Pazifischen Auster gelang den tüchtigen französischen Austernbauern binnen eines Jahrzehnts der Wiederaufbau ihrer zerstörten Austernindustrie. Die aus Kanada eingeführten erwachsenen Pazifischen Austern hatten sich in den südwestlichen Küstengebieten Frankreichs innerhalb von sieben Jahren so stark vermehrt, dass der Süden inzwischen alle Austernbauern Frankreichs mit Austernbabys versorgen konnte. Der Import aus Japan war fortan überflüssig.

Die französische Austernindustrie erholte sich nicht nur, sie wuchs sogar fast so schnell wie die neue Pazifische Auster selbst. 1960 produzierten französische Austernbauern ca. 85.000 Tonnen der Portugiesischen Auster ("C. angulata"). Weniger als 10 Jahre nach der Einbürgerung der Pazifischen Auster waren alle Produktionsrekorde der Portugiesischen Auster gebrochen und weit überholt. 1990 produzierte Frankreich bereits 150.000 Tonnen Austern (über 90% davon Pazifische Austern).

Austernbabys aus dem Südwesten Frankreichs werden auch an Austernbauern anderer europäischer Länder verkauft. Da die Pazifische Auster sich in französischen Gewässern hervorragend von selbst vermehrt, ist die Zucht in meeresbiologischen Laboren Frankreichs weitgehend auf Besonderheiten (z.B. geschlechtslose bzw. "triploide" Austern) und die Produktion von Saatgut bzw. "Austernbabys" der Europäischen Auster beschränkt.

Heute produziert Frankreich mehr als 90% aller Austern Europas und ist mit Abstand der unbestrittene Marktführer. Man könnte meinen, dass Frankreich weitgehend den Austernbedarf ganz Europas problemlos decken dürfte. Dem ist jedoch nicht so. Bemerkenswerterweise ist der beste Kunde französischer Austernbauern Frankreich selbst. Über 90% der französischen Austernproduktion sind für den Binnenmarkt bestimmt.
In den 70er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts kümmerten sich die Regierungen vieler europäischer Küstenländer verstärkt um das schädliche Abwasser von Industrie und Bevölkerung. Dies brachte in den küstennahen Ballungszentren zunehmend eine erhebliche Verbesserung der Wasserqualität, was sich stellenweise in einer langsamen Auferstehung der gesunden Meeresökologie auszahlte. Dies wiederum stärkte das Bestreben des Austernanbaus. Erstaunlicherweise werden heute an der Themsemündung, nur 70km von London entfernt, wieder viele Austern erfolgreich kultiviert. Manche Küstengebiete europäischer Länder waren ohnehin nie von übermäßiger industrieller und menschlicher Verschmutzung betroffen. Ein Beispiel dafür ist Irland. Hart arbeitende irische Austernbauern produzieren inzwischen ca. 7.000 Tonnen der Europäischen und Pazifischen Auster pro Jahr. Auch (im Sinne der Austernkultivierung) eher unscheinbare Gebiete wie etwa Schottland produzieren eine nennenswerte Menge Austern. Inzwischen gibt es sogar wieder vorzügliche Austern aus Deutschland!

Die Leistungen der Austernbauern der kühleren nordeuropäischen Staaten sind jedoch mit zusätzlicher Liebesmühe verbunden. Ihre Gewässer sind zwar überaus nährstoffreich, jedoch aufgrund der nördlichen Lage manchmal auch zu kühl. So kühl, dass die Austernbauern mancher Gegenden ihre Schützlinge vor einem potentiell kalten und harten Winter aufsammeln müssen. Die Überwinterung der kleinen Kraftpakte findet dann in geschützten und beheizten Becken statt. Der Preis dieser zusätzlichen Arbeitsschritte ist zwar hoch, führt jedoch oft zu besonders delikaten Austern. Auch der bekannteste und erfolgreichste Austernzüchter aller Zeiten, der Römer Sergius Orata, sorgte für seine berühmten Austern auf diese Art. Der Handelswert seiner lukullischen Austern entsprach ihrem Gewicht in Gold.

Europa

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*** Kleines Lexikon französischer Austernbegriffe

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